Liebe Gemeinde,
in der wilden Gebirgswelt des Kaukasus wird seit Generationen diese Geschichte erzählt:
Einst hausten in den schroffen kaukasischen Bergen eine Reihe kriegerischer Stämme. Einer dieser Stämme hob sich
jedoch unter all den anderen hervor. Hier bildeten alle Angehörigen, im Gegensatz zu den anderen, eine Einheit.
Und wenn die Leute dann verwundert fragten, was den Stamm denn so zusammenhalten würde, nannten alle ehrfürchtig nur einen einzigen Namen – den Namen ihres über alles geliebten Feldherren: „Schlemil, der Gerechte“. Denn dieser war nicht nur gerecht, sondern er stand auch zu seinem Wort. Nie wich er davon ab. Alle konnten sich deshalb felsenfest darauf verlassen.
Doch dann geschah etwas noch nie Dagewesenes, etwas Unerhörtes. Eines Morgens fehlte bei dem einen ein kostbarer Ring, ein anderer vermisste seinen edlen Becher, ein dritter suchte verzweifelt die wertvolle Kette, an welcher er so sehr hing. Kameradendiebstahl!
Auf einmal war die einst harmonische Atmosphäre im Lager vergiftet. Misstrauen machte sich breit. Sofort ließ Schlemil, der Gerechte, daher ausrufen: „Jeder, der bei einem Diebstahl ertappt wird, soll mit harten Schlägen bestraft werden!“
Die Androhung schien zu wirken und ein paar Tage kehrte Ruhe ein. Doch dann – wieder ein Diebstahl! Rasch wurden daraufhin alle Zelte durchsucht und erlöstes Aufatmen machte die Runde, als es hieß, der Täter sei gefasst worden.
Aber die Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Bald wurde bekannt, dass der Dieb niemand anderer war, als - die Mutter des Feldherrn selbst. Im Lager wurde es still. O weh! Wie würde Schlemil nun reagieren? Seine Mutter, seine über alles geliebte Mutter war die Täterin! Würde er, der doch immer zu seinem Wort stand, dieses Mal eine Ausnahme machen? Die Mitglieder des Stammes waren gespannt.
Der nächste Morgen zog herauf, Fanfaren erklangen, und alle versammelten sich auf dem großen Lagerplatz. Der Feldherr, bleicher als sonst, trat aus seinem Zelt, aus dem anderen kam seine Mutter – gefesselt, gebunden an Händen und Füssen.
Stille senkte sich über den Ort. Atemlose Spannung.
Dann fing Schlemil an zu reden. Ruhig. Gelassen.
„Männer, der Täter wurde gefasst und die Strafe wird vollzogen, denn ich stehe zu meinem Wort.“ Schon wollte der Adjutant nach der Mutter greifen, da fährt der Feldherr mit erhobener Hand fort: „Aber nicht an ihr, sondern an mir! Nehmt mich und vollbringt die Strafe an mir.“
Und dann mussten die Leute entsetzt mit ansehen, wie der Mann, den sie doch so sehr schätzten, sich für seine Mutter stellvertretend hart schlagen ließ. Heftig blutend wurde er danach vom Platz weggetragen.
Soweit die Geschichte aus den rauen Bergen des Kaukasus.
Liebe Gemeinde, da erlitt einer die Strafe, die eigentlich ein anderer verdient hätte und das aus Liebe, aus vollkommen selbstloser Liebe.
Heute feiern wir den fast 2000. Karfreitag der Geschichte. Zwar nicht wie üblich zusammen in einem Gottesdienst, doch die Tatsache ist dieselbe: Damals an jenem ersten Karfreitag nahm auch jemand stellvertretend die Schuld auf sich – aus Liebe, aus vollkommen selbstloser Liebe: Jesus Christus, der Sohn Gottes, unser Herr und Heiland. Wegen uns wurde er verhöhnt und verspottet, geschlagen und bespuckt. Wegen uns starb er dort am Kreuz von Golgatha. Und das ist jetzt keine Geschichte, sondern Wirklichkeit, liebe Gemeinde. Unfassbare Realität.
Denn damals an jenem Karfreitag, als die Erde bebte und der Vorhang im Tempel zerriss, an diesem großen Versöhnungstag, begann für uns eine völlig neue Zeitrechnung. Sozusagen die Stunde null eines neuen Lebens in Freiheit und Licht.
„Denn“, so schreibt der Apostel Paulus in 2. Korinther 2,18-21,
„Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.
So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!
Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.“
Damals, an eben jenem ersten Karfreitag der Geschichte, liebe Gemeinde, herrschte in Jerusalem absoluter Ausnahmezustand. Von überall her waren die Leute gekommen, um mit der Familie, Freunden und Verwandten das Passafest zu feiern. Zuvor jedoch wollten sie alle noch rasch zum Palast des König Herodes. Schnell hatte sich nämlich herumgesprochen, dass ein Gerichtsverfahren der besonderen Art stattfinden sollte. Pontius Pilatus, Statthalter seiner Majestät von Rom, musste, so war es Sitte, zur Feier des Tages einem Gefangenen die Freiheit schenken. Welchem? Nun, das Volk durfte entscheiden.
Einigen lief allein schon bei dem Gedanken eine schaurig-genussvolle Gänsehaut über den Rücken. Wer würde in diesem Jahr das Rennen machen? Barabbas, der berühmt berüchtigte Mörder, oder Jesus, der von sich sagte, er sei Gottes Sohn?
Man durfte gespannt sein.
Bald war kein einziger Pflasterstein mehr zu erkennen, so dichtgedrängt stand die Menschenmasse im Hof des Palastes.
Und dann kamen sie: Barabbas und Jesus. Beide gefesselt, gebunden an Händen und Füßen. Stark bewacht und scharf beäugt von römischen Soldaten.
Ein Raunen geht durch die Menge. Unruhe macht sich breit. Die Spannung ist mit Händen zu greifen. Mit angehaltenem Atem warten nun alle auf die Frage der Fragen. Pilatus stellt sie, musste sie stellen, ob er wollte oder nicht: „Welchen dieser Gefangenen wollt ihr? Wen soll ich euch losgeben: Barabbas, den Mörder, oder Jesus, bei dem ich keine Schuld gefunden habe?“ Stille.
Doch dann gibt es kein Halten mehr. Das Volk ist kaum noch zu bändigen. Wie aus einem Mund schallt es nun über den ganzen Platz: “Barabbas! Gib Barabbas frei!“ Um dann noch lauter zu schreien „Kreuzige, kreuzige ihn!“ Schmutzige Finger, geballte Fäuste und ausgestreckte Hände zeigten dabei wutentbrannt auf Jesus. Das Urteil war gefallen, der Tod besiegelt. Ein Schuldiger kam frei, der Unschuldige musste sterben. Musste das Kreuz tragen, diese unendlich schwere Last.
So sieht es aus, liebe Gemeinde! Ein Unschuldiger musste sterben, dass wir leben können!
Machen wir uns das noch einmal klar: Jener erste Karfreitag der Geschichte, ist der größte Versöhnungstag aller Zeiten!
Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu.
Mehr noch: Er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht.
Da wurde einer unschuldig zum Tode verurteilt, dass wir frei sein können. Frei von Schuld und Sünde. Wo gibt´s denn das?
Das ist doch paradox, ja, das ist es! Und das ist Karfreitag.
Jesus Christus starb für mich. Jesus Christus starb für dich. Für die ganze Welt starb er am Kreuz. Er nahm unsre Schuld auf sich, heißt es dazu in einem Lied von Peter Strauch.
Wie unendlich groß doch Gottes Liebe zu uns Menschen ist. So groß, dass er deshalb seinen einzigen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben! (Johannes 3,16)
Für mich ist das jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, unfassbar. Was Jesus da für mich getan hat, sprengt mein ganzes Verstehen. Doch bei allem wird mir auch ganz intensiv bewusst, wie stark Jesus mich wirklich liebt. Wie viel ich ihm wert bin. Ich! Jede und jeder einzelne von uns. Und fast bin ich deshalb heute, am Karfreitag, geneigt, ein frohes „Halleluja, gelobt sei der Herr!“ auszurufen. Denn: Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu. Eine bessere Nachricht gibt es gar nicht!
Und das, liebe Gemeinde, ist so sicher wie das „Amen“ in der Kirche, Amen!
Gebet an Karfreitag:
Herr, du hast das Kreuz getragen. Das Kreuz unserer Schuld, unseres Versagens, unserer Hilflosigkeit, Ängste und Sorgen.
Du bist unser Retter, Heiland und Erlöser. In die niedrigsten Niederungen des Todes bist du gegangen – für uns.
Das ist eine Tatsache und unfassbare Realität.
Lass uns daher immer wieder spüren, erleben und erfahren, wie unendlich du uns liebst und was für ein Privileg es doch ist,
dich, Herr, zu kennen, dir nachzufolgen und dir unser ganzes Leben anzuvertrauen.
Herr, segne diesen Karfreitag und gib uns Kraft, gerade auch jetzt in dieser nicht so einfachen Zeit, darum bitten wir dich, Amen.
Dazu: Psalm 22, EG 709
Lieder:
O Haupt voll Blut und Wunden, EG 85
Nun gehören unsere Herzen, EG 93